Blut, Schweiß und Tränen - Frühling 2016 bei den Ackerperlen

Es heißt ja, der Bauer soll im Märzen seine Rösslein anspannen und Felder und Wiesen in Stand setzen. Check. Wir haben uns verhalten ganz wie es das Lied verlangt - ohne Rösslein allerdings. Dafür hatten wir ganz viel Rösslein-Äpfel. Das ist eine der für Bio-Höfe zugelassenen Düngemöglichkeiten und die drei teils haushohen Haufen auf unserem Land wollten dringend verteilt werden. Unglücklicherweise hatten wir gerade für diese Zeit keine WWOOFer, so dass wir uns der Scheiße selbst und ganz alleine stellen mussten. Drei Tage hat es gedauert, dann war der größte Teil geschafft und wir stolz wie Bolle: wir hatten mit zwei Schubkarren, zwei Forken und vier Armen insgesamt mehr als eine Tonne Mist bewegt. Die ausgerenkten Wirbel und Rippen hat der befreundete Osteopath wieder an ihre Stellen befördert.

Nachdem die ersten Beete vorbereitet waren, wurden die bestellten Jungpflanzen - Salate, Lauchzwiebeln, Mangold und Kohlrabi - geliefert. Unsere nächsten beiden WWOOFerinnen, Marina und Mona, halfen beim folgenden Säen von Roter Beete und Radieschen und ich habe gelernt, dass Radieschen wirklich nicht einfach zu säen sind: Jedes dieser minikleinen, fast nicht sichtbaren Körner muss einzeln! in die Erde gelegt werden. Wenn nicht, wächst alles dicht und durcheinander, behindert sich gegenseitig und wird am Ende als Fehlversuch ausgerissen. Salate zu pflanzen machte hingegen Spaß, mithilfe eines Lochmachers, der die Pflanzlöcher für die Salate in gleichen Abständen in die Erde drückt, gelangen herrliche Reihen, an denen sich mein nach Ordnung strebendes Herz erfreute. Drumherum säten wir Phacelia, auch Bienenweide genannt, die sollte die Insekten nähren und zugleich die Schnecken vertreiben, die so hieß es, dieses Gewächs gar nicht mögen.

Kurz bevor wir im April unseren ersten sogenannten "Offenen Garten" starteten, besuchte uns noch Wiebke Schwirten, eine Redakteurin der lokalen Bergedorfer Zeitung. Sie wollte einfach mal schauen, was wir als "Ackerperlen" so treiben. Herausgekommen ist ein schöner Artikel, der uns nicht nur sehr gefreut hat, sondern auch zusätzliches, höchst willkommenes Interesse bescherte. Am Tag des Erscheinens fuhren auf unserer nicht sehr befahrenen Straße sehr viele Autos sehr langsam an unserem Haus vorbei - einige hielten an für einen kleinen Schwatz. Und alle, alle - sehr ermutigend - wünschten uns Glück und gutes Gelingen. Vor allem, so hatten wir das Gefühl, die Älteren waren berührt von unserem in ihren Augen nahezu anachronistischen Versuch, eine Gärtnerei zu gründen, wo doch sonst überall die Höfe sterben.

Mit den ersten warmen Tagen im April starteten wir unser zweites Projekt - den "Offenen Garten". In Österreich, am Ende unserer Weltreise, waren wir auf die Idee gekommen, unseren Garten einmal die Woche für jeden zu öffnen. Es gibt Kaffee & Kuchen - natürlich selbst gebacken - gegen Spende, unsere Gäste können unser Gemüse direkt ab Hof kaufen und selbstverständlich gibt es jede Menge Information über unsere Abokiste.

Und damit wir uns nicht langweilen, veranstalten wir außerdem jeden Samstag ab 14 Uhr einen Tu-Dir-Gutes-Workshop und Samstags alle 14 Tage gibt es um 10:30 Uhr einen Wildkräuterspaziergang. Seither sind die Samstage arbeitsreich und aufregend. Es kommen tolle, interessierte Menschen zu uns. Alle reden mit allen, es werden Tipps und Tricks ausgetauscht und wir merken, wie viele Leute es gibt, die Sehnsucht nach einem anderen Leben haben und die sich, wo immer es möglich ist, kleine Fluchten basteln. Und es ist eingetreten, was wir uns bei unserer Idee, einen Offenen Garten anzubieten, gedacht haben: Wir wollten einen Raum für wirkliche Begegnungen zu schaffen.

Ende April haben wir dann tatsächlich unsere ersten Abo-Kisten verkauft. Was drin war? Salat, Schnittlauch, Radieschen, Mangold, Schnittlauchblüten und unser wunderbarer Apfelsaft. Es ist wirklich beglückend, die Früchte unserer durchaus mühevollen Arbeit weitergeben zu können und - auch sehr schön - begeisterte Resonanz zu erfahren. Es ist eben ein Unterschied, ob du Supermarktware oder regional und saisonal gewachsenes Gemüse isst, in dem das Beste ist, was die Natur gerade zu bieten hat. Wer den Unterschied kennt, macht einen Bogen um die Massenware.

Auf dem Acker erweiterte sich unser Tätigkeitsfeld langsam durch Hacken, Jäten, Ernten und vor allem: Schnecken sammeln. Die ständigen Regengüsse hatten die nackten Biester zu Heerscharen auf unser Feld gelockt. Die Salate und der Kohlrabi waren ihre Hauptangriffspunkte, sogar an den Lauchzwiebeln und an den Radieschen vergingen sie sich. Es war wirklich eine Plage. Spaßeshalber haben wir mal überschlagen, wieviel wir von den Allesvernichtern einsammelten. Wenn du fünf Schnecken pro Pflanze zählst, kommst du auf 2000. Und das manchmal täglich. Sogar die Hühner haben sich am Schluss geweigert, die Vertilgung zu übernehmen. Massenhaft flohen sie aus dem Hühnergehege mit direktem Kurs auf unsere Beete. Ich muss zugeben, bei diesen Massen endete mein Mitleid fürs Getier. Was ist eure beste Methode, Schnecken zu vernichten? Bei uns rissen diese Untiere trotz aller Anstrengungen tiefe Löcher in unsere Pflanzungen. Was die Phacelia gebracht hat? Nun, die Schnecken sind mit Freude hineingesprungen - von wegen, das hält die Schnecken ab. Und wo sie schon mal drin waren, haben sie schnell spitz gekriegt, dass hinter der Bienenweide noch mehr Schmackhaftes steht. Tja, wieder was gelernt. Indische Laufenten, so waren wir irgendwann überzeugt, sind unsere einzige Chance.

Bevor wir uns aber näher mit den Laufenten beschäftigen konnten, waren wir von heute auf morgen vor ganz andere, geradezu existenzielle Probleme gestellt. Ende Mai entschlossen wir uns, einen ausgebauten LKW anzuschaffen. Es gab viel Arbeit und wir sind als WWOOF-Hof beständig nachgefragt und so schien uns ein weiterer Schlafplatz für WWOOFer nötig. Im Internet hatten wir einen MOWAG gefunden, ein Militärfahrzeug der Schweizer Armee, der von seinen Vorbesitzern liebevoll ausgebaut worden war. Das Schmuckstück stand in Hamburg und so vereinbarten wir tags darauf einen Besichtigungstermin. Schon auf den ersten Blick war klar: Besitzer und Auto gefielen uns über alle Maßen. Enthusiastisch und überstürzt wagten wir uns auf eine Probefahrt - Wegstrecke und -länge verabredeten wir nicht. Ich glaubte, wir wären nur kurz unterwegs, ließ unser Auto - es war ein heißer Tag - mit heruntergelassenen Fenstern, Portemonnaie und Papieren auf dem Gartengelände stehen und stieg mit Alex und der Besitzer-Familie samt 4jährigem Sohn in den Wagen. Es gab eine kurze Einweisung in den Rechtslenker, als ich übernahm, waren wir mitten in der Stadt. Ich stellte Sitz und Spiegel auf mich ein und fuhr los.

Zunächst war die Fahrt unproblematisch, doch dann mussten wir aufgrund einer roten Ampel bremsen. Eigentlich kein Ding, ich kuppelte aus, ließ rollen und nun hieß es nur noch bremsen… tja, so sollte es sein… Nun kann ich aber nicht dreidimensional sehen. Ich hatte mir vorher zwar die Lage der Pedale, also Kupplung, Gas und Bremse, angeschaut, auch den Sitz auf die Entfernung des Gaspedals eingestellt. Was ich aber nicht sehen konnte, war, dass das Bremspedal ca. 20 cm höher als die beiden anderen Pedale angebracht war. Kommt man ja auch so nicht drauf. Für mich sahen sie auf einer Ebene liegend aus. Als ich nun bremsen wollte, war die Bremse einfach nicht zu finden, war einfach nicht da. Auch hektischstes Suchen brachte nur gähnende Leere zu Tage. Grauenvoll! Tja, und so sind wir dann mit ca. 40km/h auf das vor uns stehende Auto raufgedonnert - und das, weil Oldtimer, ohne Anschnallgurte. Oh Gott!

Das Geschrei, die Hektik, all die panischen Übersprungshandlungen endeten mit einem Schlag. Ruhe. Zeit spielte keine Rolle mehr. Dauerte es lang oder kurz? Ich wusste es nicht. Als nächstes fand ich mich jedenfalls am Straßenrand wieder,  jemand hatte mich in stabile Seitenlage gelegt. War es so schlimm um mich bestellt? Offensichtlich, denn ich merkte, dass ich meine Oberlippe mit meiner Zunge durchstoßen konnte. Es war wohl mehr kaputt, als der Schmerz mir signalisierte - oh nein! Alex kam angehumpelt. Sie konnte laufen, immerhin. Erleichtert, mich lebend zu sehen und erschrocken zugleich, erzählte sie, dass Philip, der Besitzer, der auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, eine tiefe Platzwunde am Kopf hat. Wenig später ist Wibke, seine Frau bei mir. Sie war weitgehend unverletzt geblieben und versicherte mir, dass es auch ihrem Sohn gut ging - Tonnen fielen von mir ab - der Vierjährige war tatsächlich der einzige von uns, der unverletzt geblieben ist.

Danach überließen wir uns dem deutschen Unfallmanagement, das effizient und ruckelfrei ineinander griff. Schon wenige Minuten nach dem Unfall war ein Einsatzwagen des Roten Kreuzes zur Stelle, wir wurden in Krankenwagen verladen und mit Tatütata ins Krankenhaus gefahren. Das war mir ein bisschen peinlich - verrückt, dass ich mir, verletzt und zerdergelt wie ich war, um so etwas Gedanken machte. Vor allem aber war ich dankbar, dass uns dieser blöde Unfall in Deutschland ereilt hat. Auf unserer einjährigen Weltreise mussten wir glücklicherweise keine größeren Erkrankungen behandeln lassen. Jetzt wurden unsere diversen Prellungen, mein gebrochener Fuß und die gerissene Lippe im Handumdrehen versorgt. Trotzdem, so sagten uns die Pfleger, sahen wir aus wie die Opfer der Kneipenschlägerei, die die Ärzte tags zuvor zusammengeflickt hatten.

Was für ein Tag. Er hatte ganz normal begonnen und nun waren wir demütig und dankbar, noch am Leben zu sein - und, dass die Kinder beim Unfall nicht dabei waren! Einmal mehr wurde uns bewusst, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Per Taxi ging’s zurück zum Gartengelände, dahin, wo das Unglück seinen Lauf genommen hatte. Irgendwie waren wir uns einig, dass wir den LKW trotz allem übernehmen würden. Wir trafen Wibke und ihren Sohn. Der Schock stand ihr in den Augen - so wie uns auch. Wir waren erleichtert, dass es keine auf uns gerichtete Aggression gab, nur den Willen, alles gütlich zu regeln.

Und das taten wir dann auch. Entgegen allen gut gemeinten Ratschlägen kauften wir das Auto auch als Totalschaden - sicherlich, wir hätten rechtlich keine Verpflichtung dazu gehabt, es war ja kein Kaufvertrag unterschrieben, wir hatten lediglich eine Probefahrt gemacht und da trägt das Risiko absurderweise eben der Verkäufer. Aber die beiden Vorbesitzer sind lustige und unangepasste Menschen, ähnlich wie wir. Das einzige Kapital, dass sie hatten, steckte im MOWAG, es wäre, fanden wir, einfach schändlich gewesen, sich rechtsgemäß zu verhalten. Außerdem sagen wir ja auch unseren Kindern, wenn sie etwas von anderen kaputt machen, dass sie dafür verantwortlich sind, es zu ersetzen oder zu reparieren.

Ein Schlag, finanziell, psychisch wie körperlich, war das alles aber natürlich trotzdem. Besonders der Aufenthalt im Krankenhaus, der aufgrund des gebrochenen Fußes wenige Tage später nötig war, hat mich nachhaltig bewegt. Ich lag mit einer 94jährigen Frau im Zimmer, die dort aufgrund einer operierten Hüfte war. Diese Frau nun schrie unablässig vor Schmerzen. „Aua, Aua, Aua, diese Schmerzen! Hilf mir doch! Aua, aua, aua!“ Hilfe, die ich per Knopf holte, kam umgehend. Als die Pfleger jedoch merkten, dass ich es war, die die Klingel drückte, ließen sie länger und länger auf sich warten. Später verstand ich: Die Pflegenden hatten der Frau alle verfügbaren Schmerzmittel gegeben, nichts wollte helfen und es waren ihnen einfach die Hände gebunden. Da kein anderes Bett frei war, musste ich mich dem psychischen Dauerstress eben stellen. Zunächst versuchte ich die Frau zu beruhigen, durch Ansprache, durch Berühren - worauf sie wenigstens ein bisschen reagierte. Später nahm ich irgendwann die Position der Pflegenden ein: ich wusste, sie hat alle Schmerzmittel der Welt bekommen, sie konnte eigentlich keine Schmerzen mehr haben und so wurden bei mir die Intervalle, in denen ich für die alte Dame den Knopf drückte - sie hat mich übrigens nie darum gebeten - immer länger. Interessant, ich stumpfte ab, schon nach einem halben Tag.

Ebenso erschütternd war der Besuch ihres Sohnes, der sie während meines kurzen Aufenthalts im Krankenhaus einmal besuchen kam. Diese 20 Minuten waren die einzige Zeitspanne, in der die Frau ruhig blieb - vielleicht, um ihren Sohn zu beruhigen? Vielleicht auch, weil es endlich liebevolle Ansprache gab? Der Sohn jedenfalls war sichtlich erleichtert, dass es seiner Mutter nicht so schlecht ging, wie er offensichtlich erwartet hatte. Entsprechendes bestätigten ihm auch Ärzte und Pflegende. Kaum war er jedoch verschwunden, setzten die Schmerzensschreie wieder ein und ich dachte über unsere medizinische Versorgung nach. Natürlich, rein technisch ist sie eine der besten der Welt und die Präzision und die Geschwindigkeit, mit der uns geholfen wurde, war wirklich beeindruckend. Der alten Frau jedoch nützte diese High-Tech-Medizin nicht viel. Sie brauchte nicht Schmerzmittel, sondern eigentlich doch Ansprache, Mitgefühl, Berührung von liebevollen Menschen - und zwar rund um die Uhr.

Diese menschliche Zuwendung ist allerdings etwas, das in unserer Gesellschaft schlicht nicht bezahlbar zu sein scheint. Absurd, wenn man sich den Reichtum Deutschlands vor Augen führt. Ich weiß nicht, ob es wirklich nicht bezahlbar wäre. Sicher nach rein ökonomischen Maßstäben ist so etwas vielleicht schwierig, aber das ist etwas, was sich zu hinterfragen lohnen würde. Können wir es uns wirklich leisten, soziale Beziehungen, Erziehungsarbeit, Pflege, alles, was mit menschlichem Miteinander zu tun hat, nach Maßstäben der Wirtschaftlichkeit zu bewerten? Für mich war es jedenfalls grauenvoll, diese Frau leiden zu sehen und zu wissen, dass sie nicht unter einem medizinischen, sondern unter einem menschlichen Mangel litt. Tim Taler, eine Kinderserien-Figur aus meiner Kindheit, musste sein Lachen für seinen Reichtum wegschenken. Bei uns sind offensichtlich die Fähigkeit zur Empathie, Herzenswärme und Mitgefühl der Preis für unsere hoch gelobte Effizienz. Kein Wunder, dass Hartherzigkeit auch im politischen Diskurs gang und gäbe ist.

Wie es nach dem Unfall weiterging? Es half absurderweise, dass wir einfach weitermachen mussten. Gemüse und Tiere nehmen eben keine Rücksicht auf Unfälle, die brauchen Wasser, die brauchen Futter und Fürsorge. Und am Tag nach dem Unfall - ein Samstag - veranstalteten wir natürlich unseren "Offenen Hof". Also nicht ich, das übernahmen Alex und unser armer WWOOFER Kevin, den unser Unfall sehr geschockt hat. Ich musste mich im oberen Stockwerk verstecken, da ich mit meinem Aussehen schlicht nicht zumutbar war. Abends kam unsere Freundin Tine vorbei und hat uns eine köstlich Thai-Suppe gekocht: „Ihr müsst gar nicht reden. Ich gehe auch gleich wieder.“ Sie wollte einfach nur helfen und das war es auch, was wir in den nächsten Wochen nach diesem Unglück erleben durften: Von allen Seiten kamen Hilfeangebote, die Kinder wurden oft von der Schule abgeholt, es wurde für uns Kuchen gebacken, gekocht und gesorgt. Und es fand sich sogar jemand, der enthusiastisch genug war, unserem Schrottwagen noch eine strahlende Zukunft zu versprechen. Wie es damit weiter geht, erfahrt ihr in einem unserer nächsten Blogposts.

Autorin: Petra Schild